Können die die Erst- und Zweitklässler heute schlechter schreiben als früher? Eine Frage, die sich nicht nur Eltern und Lehrkräfte stellen, sondern die auch von Bildungspolitikern heiß diskutiert wird. Da die Ansichten hierzu oft sehr subjektiv und teilweise auch politisch gefärbt sind, ist es gut, wenn man in der Diskussion über objektive, belastbare und vergleichbare Langzeitdaten verfügt.
Der Psychologe Dr. Peter Birkel kennt sich mit solchen Daten gut aus. Der 80-jährige ehemalige Kollege der PH Weingarten hat einen großen Teil seines Lebens damit zugebracht hat, Tests für den Bereich Rechtschreiben zu entwickeln, die Daten zu sammeln, auszuwerten und zu veröffentlichen und ist auch noch im Ruhestand im Dienste der Wissenschaft aktiv. Sein jüngstes Werk präsentierte er bei einem Besuch der Rektorin der PH, Professorin Dr. Karin Schweizer: Den „Weingartener Grundwortschatz Rechtschreib-Test für erste und zweite Klassen“. Das großformatige, knapp 130 Seiten starke Handbuch zum Test ist voll von Statistiken, Tabellen, Daten, Grafiken und wissenschaftlichen Einordnungen. Es ist quasi ein Standardwerk im deutschsprachigen Raum, wenn man die Rechtschreibleistungen von Erst- und Zweitklässlern objektiv bewerten möchte.
„Wir haben von 2017 bis 2021 über 6000 Grundschülerinnen und Grundschüler an verschiedenen Schulen in ganz Deutschland getestet und die Ergebnisse ausgewertet“, erklärt Birkel stolz. Die Schülerinnen und Schüler haben alle eine von zwei Test-Varianten bearbeitet, in denen sie 25 einfache Sätze vervollständigen mussten, wie etwa „Lea ruft: „Schau, da drüben schwimmt eine Ente! Mit dem Finger zeigt sie die Richtung.“ In diesem Test wird ermittelt, inwieweit die Kinder den Grundwortschatz für das Ende der Klasse 1 auch in der richtigen Schreibung beherrschen, der gemäß den Lehrplänen in den Grundschulen vermittelt wird.
„Anhand der großen Menge von Test-Daten konnten wir eine Neueichung dieses Tests abschließen“, erklärt Birkel weiter. Sein Interesse für Tests wurde schon in den siebziger Jahren geweckt, als Birkel in der Arbeitsgruppe „Pädagogische Diagnostik“ unter der Anleitung von Professor Dr. Karlheinz Ingenkamp, der damals als der Test-Papst galt, gearbeitet hat. „Ich habe dabei erkennen können, wie ungerecht oft die Leistungsbeurteilung von Kindern ausfallen kann, wenn sie nur im Zusammenhang mit der zufällig zusammengesetzten Klasse bewertet werden“, erzählt Birkel. In jeder Schule gibt es leistungsstärkere und schwächere Klassen. Unter normalen Umständen kann eine Lehrkraft mit einem Diktat nur die Leistungen der Schüler innerhalb einer Klasse vergleichen. Wenn jetzt in einer Klasse überdurchschnittlich viele sehr gute und gute Schülerinnen und Schüler sitzen, kann beispielsweise ein mittelmäßiger Schüler eine schlechtere Note in seiner Arbeit erhalten, als er sie in einer schwachen Klasse erhalten hätte, in der er vielleicht zu den besten gezählt hätte. Hier kommt nun der WRT1+ ins Spiel, den man wie eine Art geeichten Zollstock anlegen kann, um herauszufinden, wo denn die Leistung des einzelnen Schülers oder der Schülerin im Vergleich zum bundesweiten, nicht nur klasseninternen Durchschnitt liegt.
„Wir haben in den späten 80er Jahren begonnen, Diktate auf der Basis von Grundwortschatzwörtern zu entwickeln und zu analysieren“, so der ehemalige Kollege der PH. „Unser Ziel war es, einen Test zu entwickeln, der die Rechtschreibfähigkeit der Kinder in den Klassen 1 und 2 mit hoher Zuverlässigkeit überprüfte.“ Nach mehreren Stichproben in verschiedenen Bundesländern wurde der Test erstmals Anfang der 90er Jahre an über 10.000 Kindern geeicht. 1995 erschien dann der WRT1+ in erster Auflage. Aufgrund der Einführung der Rechtschreibreform 2002 musste dann der Test angepasst und neu geeicht werden. Diesmal war die Eichstichprobe mit 18.400 Kindern besonders groß und ergab sehr zuverlässige Normen zur Bewertung der Leistungen.
„2017 entschlossen wir uns, den Test nochmal einer neuen Eichung zu unterziehen, denn viele Lehrkräfte klagten über nachlassende Rechtschreibfähigkeiten ihrer Schülerinnen und Schüler“, berichtet Birkel. „Eine Neueichung sollte klären, ob die Befürchtungen stimmen. Allerdings war das nicht ganz einfach. An den Schulen fanden die verpflichtenden PISA- und VERA-Tests statt und daher war die Bereitschaft, an einem weiteren Test freiwillig teilzunehmen, geringer als früher. Dann machte uns auch noch die Corona-Pandemie einen Strich durch die Rechnung.“ So kamen nicht mehr ganz so viele Testdaten zusammen, aber immer noch gut ausreichend, um schließlich die Neuauflage Ende 2022 zu veröffentlichen.
Doch wie ist es nun mit den Leistungen der Schülerinnen und Schüler, haben diese wirklich nachgelassen? „Wir haben hier ein etwas uneinheitliches Bild“, sagt Birkel. „Die Erwartung, dass eine generelle Verschlechterung der Rechtschreibleistungen eingetreten sei, bestätigt sich zumindest in der ersten und zu Beginn der zweiten Klasse nicht. Erst Mitte der Klasse 2 wird deutlich, dass sich bei der Neueichung 2020 die Leistungen der Kinder sichtbar verschlechtert haben.“ Birkel vermutet, dass sich eine deutliche Abnahme der Rechtsschreibfähigkeiten erst in den folgenden Schuljahren herauskristallisiert. „Dies wäre dann durch die parallel durchgeführte Neueichung der Tests WRT 2+, 3+ und 4+ weiterzuverfolgen“, meint Birkel.
Die Arbeit wird ihm und seinem jungen Mitarbeiter Daniel Berwanger also nicht so bald ausgehen. Und Peter Birkel ist noch voll motiviert. „Ich fühle mich körperlich und geistig fit genug, auch weiterhin wissenschaftliche Arbeiten auszuführen. Im Grunde kann ich nur sagen, dass mich andererseits diese Arbeit auch fit hält. Mir macht einfach die Arbeit mit jungen Menschen viel Spaß“, meint er.
----------------
Text: Dr. Peter Birkel und Arne Geertz