Einführung
Forschungsfrage: Wie können wir den Philosophie- und den Vernunftbegriff erweitern, damit Bildung mehr ist als logozentrisch und rationalistisch?
Forschungsansatz: Im Weg steht uns hier eine unbefriedigende, das Denken einengende Dichotomie, nämlich Vernunft versus Gefühl. Was nicht rational ist, muss irrational sein, was nicht logisch ist, muss unlogisch sein. Wir müssen uns daher ein größeres Bild erarbeiten, um die Limitationen dieser Dichotomie verständlich zu machen und eine andere Vernunftpraxis beschreiben und ausarbeiten zu können. Diese wird dann eine komplementäre, transformative philosophisch-ethische Bildung ermöglichen.
Die Frage nach einem neuen Konzept philosophisch-ethischer Bildung
Die Forschungsfrage der Untersuchung mit Blick auf Bildung.
Diese ließe sich so formulieren: Wie können wir den Philosophie- und den Vernunftbegriff erweitern, damit Bildung nicht zu logozentrisch und rationalistisch wird? Diese Begriffe sind nicht kritisch gemeint gegen ratio und logos selbst, sondern gegen ihre Vereinseitigung und Überbetonung in der philosophisch-ethischen Bildung.
Der Forschungsansatz mit Blick auf Bildung.
Im Weg steht uns, nämlich bei der Bearbeitung o.g. Frage, eine unbefriedigende, das Denken einengende Dichotomie, nämlich Vernunft versus Gefühl. Was nicht rational ist, muss irrational sein, was nicht logisch ist, muss unlogisch sein. Oft scheint es, als machten sich die Vertreter:innen der eher auf rationales Argumentieren und Urteilen konzentrierten Bildung allzu schnell ein Bild von dem, was in dieser Bildung noch fehlen könnte, Leben im Sinne dieser m.E. falschen Dichotomie. Das Andere zur ratio ist dann einfach das, was noch nicht ratio ist, etwa ein Eindruck (eine Stimmung, ein Gefühl), der noch subjektiv und unscharf ist und der in begriffliches, propositionales Wissen überführt werden muss. Meine Erfahrung ist: Von der Sache oder vom Phänomen her (also etwa von jenen gefühlsgeladenen Einsichten über unser Leben und Sterben bei der Lektüre von Tolstois Krieg und Frieden), ist dem nicht beizukommen. Solange wir in der unguten Dichotomie Vernunft versus Gefühl verharren, sehen wir solche Einsichten als noch subjektive und unscharfe Einsichten, die noch in Argumente übersetzt werden müssen. Meine Untersuchung musste deshalb versuchen, solche Dichotomien dadurch zu unterlaufen, dass wir sie als Teil eines größeren Tableaus sehen und verstehen lernen – und dadurch erst die Limitationen dieser Dichotomie bemerken: Ästhetisches Erkennen (nur als ein Beispiel für andere Vernunft- und Wissensformen) ist nicht einfach ‚Gefühl‘.
Ein fester Rahmen, eine Begründung, eine Herleitung: für anderen Wissensformen und für eine andere philosophischethische
Bildung.
Weil es schon mannigfaltige Entwürfe für andere Elemente philosophisch-ethischer Bildung gibt (alternativ zum argumentativ-rationalen Mainstream) im Bereich Ästhetik,
Performativität, Herzensbildung etc., liegt der Fokus meiner Untersuchung auch darauf, diesen einen systematisch-philosophischen Rahmen zu geben, auch der Versuch einer Art Herleitung. Mehr als ein eigener fachdidaktischer Ansatz ist mein Bemühen daher der Versuch, marginalisierte Praktiken der Philosophie zu stärken und anzubinden an den fachphilosophischen Diskurs, daher die Übersicht (Abbildung zu den verschiedenen Praktiken der Vernunft): Diese Praktiken sind gleichberechtigter Teil einer vielfältigen Vernunftkultur.
Eine Übersicht.
Verschiedene Praktiken der Vernunft führen zu verschiedenen Selbstverständnissen der Philosophie und der philosophisch-ethischen Bildung. Der rational-argumentativen Vernunftpraxis entspricht am besten die Philosophie als wissenschaftliche Praxis, als Weltweisheit (Philosophie interveniert rational argumentierend in öffentlichen Fragen). Bildung ist hier Stärkung der ethischen Urteilskraft durch (sokratisches) Gespräch, Argument, Urteil und Entscheidung. Der transformativen Vernunftpraxis entspricht am ehesten die Philosophie als Lebensform, als Selbsttransformation der Vernunft (Erweiterung des Vernunftdiskurses sowie Inversion des Denkens in der Weisheit). Und Bildung ist hier, komplementär zur klassischen, weniger auf das richtige Urteilen (propositionale Wahrheit, auch als normative Richtigkeit rationaler Ethiken) fokussiert. Vielmehr zielt Bildung auf das, was die verschiedenen Aspekte der Transformationbezeichnen: Arbeit an uns selbst (Selbstkultivierung), Selbstartikulation und Integration von Endlichkeit. Und während die rational-argumentative Vernunftpraxis vor allem propositionale Wahrheit anstrebt, hat es die transformative Vernunftpraxis oft mit nachpropositionalem Wissen zu tun (ästhetisches Erkennen, Herzensbildung, Umgang mit Nichtsemiotisierbarem etc.).
Was mir wichtig ist – vier Thesen zu einem anderen Konzept philosophisch-ethischer Bildung.
Die Thesen mögen ungewohnt klingen, aber vor dem Hintergrund der Kapitel des Buchs sind sie hoffentlich besser verständlich und einleuchtend.
Autonomie und Selbstdenken sind wichtige Ziele. Unser Denken muss frei sein und darf nicht von mächtigen Traditionen eingeengt werden. Doch oft ist Autonomie eine Illusion, weil irgendein Bias in uns stärker ist und auch, weil wir voneinander abhängig und aufeinander angewiesen sind. Wir sind viel weniger autonom, als wir gern wären. Doch das ist nicht nur ein Nachteil. Denn wo Autonomie und Selbstdenken als das schlechthin Gute gelten, kann der Blick für jenes Gute verloren gehen, das es draußen in der Welt gibt, außerhalb von unserem Selbstdenken, außerhalb von unserem ‚eigenen Standpunkt‘ und unserer Autonomie. Ein erfülltes und sinnvolles Leben kann es auch in Verbundenheit und Abhängigkeit geben. Autonomie ist ein Ziel, doch manchmal nicht das Wichtigste.
Urteilsfähigkeit ist ein wichtiges Ziel. Differenziert wahrnehmen und abwägen, immer wieder neue Überlegungen einbeziehen, konfligierende Gesichtspunkte sehen – das ist eine denkerische Tugend. Doch Liebesfähigkeit ist ebenfalls wichtig: für uns selbst, für die anderen und für die Welt. Das Gute bringen wir nicht durch unser kluges Urteilen hervor, das Gute ist kein Produkt unserer kognitiven Operationen. Wir begegnen ihm in der ohnmächtigen Liebe (Camus), in der Solidarität (Rorty) und auch, wenn wir moralisch sensibler werden (Hume), vielleicht demütiger (Murdoch). Das Gute hängt an der humanen Universalität, es ist immer schon da, manchmal erkennen wir es mit dem Herzen besser als mit dem Syllogismus. Urteilsfähigkeit ist wichtig, doch mitunter nicht das Wichtigste.
Vernünftig zu sein und immer vernünftiger zu werden, ist ein wichtiges Ziel. Vernunft, das bedeutet, es gibt immer noch einen weiteren, einen umfassenderen Standpunkt und von diesem aus auf uns und die Welt zu schauen, das ist unsere denkerische Aufgabe, wenn wir die Stimme der Vernunft (in uns) stärken möchten. Doch Vernunft ist nichts Statisches und Objektives (das erhoffte sichere, objektive, unveränderliche Wissen, bei dem wir uns beruhigen können). Der Begriff der Vernunft von sich selbst entwickelt sich immer weiter, etwa von der antiken spekulativen (Platon) zur modernen kritischen (Kant) zur modernekritisch revidierten Vernunft (Adorno). Vernunft braucht diese ständige Verflüssigung und Bewegung – und sie braucht das Subjektive, die Selbstartikulation vernünftiger Subjekte und auch das Hören auf deren Stimmen. Auch gibt es verschiedene Formen und Praktiken der Vernunft, Vernunft ist in sich selbst plural. Das Identische im historischen Wandel wie auch in der systematischen Vielfalt ist dies: Vernunft ist immer wieder die letzte Reflexionsinstanz, die in jedem erreichten Ergebnis eine neue Frage sieht. Vernunft ist das Ziel, doch nicht als Sicherheit und Bestand, sondern als Instanz, die einen immer noch umfassenderen Standpunkt bezieht.
Der Diskurs ist wichtig, das Sprechen, der Austausch, die Diskussion, das Lesen und der Streit. Denn dies erst bringt das Denken weiter und macht es immer besser. Doch der Diskurs dringt oft viel weniger weit vor, als er ahnt und er ist auch nicht immer das beste Mittel. Die Welt ist ein Geheimnis, wir selbst sind es ebenso sehr. Oft reichen hier Kunst und Literatur weiter. Denn vieles können wir nicht propositional sagen, sondern nur in (Sprach-)Bildern umschreiben. Und doch bilden wir uns auch an dem, was sich nur bildlich sagen lässt. Vieles entzieht sich sogar allem Semiotisieren, auch den Bildern, es ist das radikal Andere zu allem Bedeuten. Aber auch dieses bis zuletzt Widerständige gehört in menschliches Leben und Wachsen und auch in die Bildung. Sind wir im Diskurs, erleben wir eine Totalität, die sich selbst genügt. Doch das Nichtsemiotisierbare und die Kunst, die Herzensbildung und die Liebesfähigkeit, all das können wir nicht auf dem Weg des Diskurses erreichen – und doch ist es zentral. Von diesen Bereichen der Bildung aus betrachtet scheint die Fokussierung auf das Argumentieren, auf den Diskurs als Vereinseitigung. Diskurs ist wichtig, doch manchmal nicht das Wichtigste.